Kein Gefühl ist endgültig.«
Unbekannt
ZURÜCK ZU JENEN TAGEN, als ich keinen Spaß verstand. Wie Kali war (und bin) ich wütend über die systemische grausame Behandlung anderer Lebewesen. Wie Kali sah (und sehe ich immer noch), dass zunehmend Kräfte in dieser Welt am Werk sind, die absichtlich Existenzen, die von Bedeutung sind, an den Rand drängen, wo sie aus der Bahn geworfen und zerstört werden; und entsprechend meinem natürlichen Impuls will ich das in meiner Macht Stehende tun, um alle Formen des Missbrauchs zu beenden. Im Gegensatz zu Kali habe ich jedoch eine Trauma-Vorgeschichte. Im Gegensatz zu Kali haben wir alle in größerem oder kleinerem Ausmaß eine Trauma-Vorgeschichte, und diese Geschichte hat uns darauf konditioniert, wohin unser Bewusstsein sich wendet, was uns auffällt und wie unser Herz reagiert. Was ich damit sagen will, ist, dass ich im Gegensatz zu Kali nicht in einem übernatürlichen Zustand existiere, in dem ich dem Impuls meiner Wut folgen und gänzlich frei von toxischen Gefühlen entsprechend handeln kann. (Ich hoffe, ich muss an dieser Stelle nicht darauf hinweisen, dass der Mythos der Kali nicht wörtlich zu nehmen ist – er ist kein Freibrief für einen mörderischen Amoklauf.) Der Kali-Mythos kann uns viel über die eigentliche Natur des Zorns zeigen; er ist da, um unsere Sichtweise zu erweitern. Mich erinnert er daran, dass ich Zorn tatsächlich als Freund annehmen kann. Das hilft mir, mich weniger in ihn zu verstricken, was mir wiederum hilft, den mitfühlenden Funken an der Wurzel meines Zorns nicht aus dem Blick zu verlieren.
Die Lektüre der Kali-Legende kann uns inspirieren, in einem Augenblick der Wut die Energie des Mitgefühls zurückzugewinnen. Die Legende selbst zeigt uns zwar nicht, wie wir dies erreichen und praktisch umsetzen können, aber ich werde im Lauf des Buches einfache innere Prozesse beschreiben, die zu diesem Ergebnis führen können. Einige dieser Vorgehensweisen wollen wir im Abschnitt »Übungen«, der auf dieses Kapitel folgt, ausprobieren – als Abschluss des ersten Teils dieses Buches; weitere Übungen sind dann jeweils am Ende der folgenden Buchteile zu finden. Einen kleinen Versuch wollen wir aber jetzt schon einschieben.
OBWOHL ICH DIE KONZEPTE und Theorien, die in diese Praxis eingebettet sind, erst später in diesem Kapitel und in den folgenden Kapiteln erläutern werde, enthält diese kleine Übung bereits alle wichtigen Übungen, die wir im Laufe des Buches untersuchen werden. Ich möchte dich ermutigen, jederzeit darauf zurückzukommen. Diese Übung eignet sich auch sehr gut für die Arbeit mit Gefühlen, die eher neutral sind und beispielsweise dann aufkommen, wenn wir etwas lesen und Informationen verarbeiten oder unseren alltäglichen Aufgaben nachgehen. Wir werden noch früh genug mit den tieferen Schichten arbeiten.
Lenke deine Aufmerksamkeit auf das, was beim Lesen emotional und kognitiv mit dir geschieht. Richte einige Aufmerksamkeit auf den Körper. Hast du den Eindruck, dass dein geistiger Zustand dich körperlich beeinflusst (oder umgekehrt)? Halt einen Moment inne und schließ die Augen. Spüre, ob du Verspannungen im Kiefer, das Gefühl eines Gewichts auf der Brust, Knoten im Bauch oder sonst etwas hast. Oder vielleicht bist du zu sehr oben in deinem Kopf, um dem jetzt nachzuspüren. Wenn ja, dann »hör« einen Moment lang deinen Gedanken zu. Was sagen sie? Was sind die Themen? Werden lange Listen erstellt? Tauchen Erinnerungen auf? Hast du plötzlich den Drang, etwas anderes zu tun? Vielleicht ist da ein Bemühen, diese Übung »richtig« zu machen. Wahrscheinlich versuchen die Teile von dir, die da sind, dir in irgendeiner Weise zu helfen, zum Beispiel, etwas herauszufinden, dich an Dinge zu erinnern, die du tun musst; sie sträuben sich gegen das unbekannte Terrain dieser Übung, mahnen dich, dass du es in irgendeiner Weise besser machen musst, oder tun etwas anderes.
Wenn wir dergleichen bei unseren Empfindungen oder inneren »Stimmen« bemerken, dann nehmen wir etwas wahr, das als Entschmelzung, Loslösung oder Desidentifizierung bezeichnet wird – ein Konzept, das ich später in diesem Kapitel näher beschreibe.2 Fürs Erste solltest du nur wissen, dass dein Gegenwärtigsein mindestens zwei Aspekte hat: einen Aspekt, der Gefühle und Gedanken ausdrückt, und einen, der diese Gefühle und Gedanken wahrnimmt.
Nun möchte ich, dass du etwas ausprobierst, was du vielleicht noch nie zuvor getan hast: Schau, ob du in dir einen Raum findest, in dem es möglich ist, ein bisschen neugierig auf diese Teile deiner selbst zu werden. Worauf sind sie aus? Warum machen sie den Geist so aktiv? Haben sie eine Absicht, eine Agenda? Vielleicht ist es hilfreich, zuerst ein paarmal bewusst durchzuatmen. Wenn dann das wohlwollende Gefühl in dir aufkommt, etwas mehr erfahren zu wollen, versuch einmal, innerlich Neugierde zu äußern. Du könntest dir sagen: »Ich würde gern mehr über dich erfahren. Gibt es etwas, das ich wissen sollte?« Und dann warte einfach ein bisschen ab.
Wenn wir das tun, passiert normalerweise etwas. Vielleicht hast du eben ein paar Informationen erhalten. Vielleicht warst du ratlos, was du damit anfangen sollst. Vielleicht hat es sich wie ein kleiner Schock angefühlt. Vielleicht hast du das Gefühl gehabt, dass Teile von dir nichts mit dir zu tun haben wollen. Vielleicht ist eine Erinnerung aufgepoppt. Vielleicht hat ein Teil von dir geschrien: »Das ist bescheuert!« Aber irgendetwas ist passiert. Du hast eine Antwort erhalten. Während du deine Gedanken vorher vielleicht als »inneren Monolog« betrachtet hast, hast du jetzt etwas anderes in Gang gebracht – einen inneren Dialog.
IM ALLGEMEINEN KÖNNEN UNS UNSERE GEFÜHLE und Gedanken in eine von zwei Richtungen führen. Wie bei mir damals in der Highschool geschehen, können sie uns in einen Zustand bringen, in dem wir unser Leid noch vertiefen. Wir können aber auch anders mit unserem Geisteszustand in Beziehung treten, nämlich so, dass wir zum Beispiel neugierig auf die störenden Energien in uns sind oder sogar mitfühlend auf sie reagieren. Wenn uns eine solche Umstellung gelingt, erschließen wir uns dadurch die Möglichkeit, mit unseren emotionalen und kognitiven Teilen in Prozesse einzutreten, die unsere innere Welt in Harmonie bringen. Der Unterschied liegt darin, wie wir mit ihnen interagieren. Viele von uns wissen nicht, dass wir mit unseren psychischen Anteilen interagieren können – und noch weniger wissen wir, dass wir dies tun können, um unglaublich vielversprechende Ziele zu erreichen. Unserem Empfinden nach sind unsere Gefühle endgültig, deshalb erscheint es uns sinnlos, ein Gespräch mit ihnen zu beginnen. Aber sie sind nicht endgültig. Wie es in dem berühmten Ausspruch von WALT WHITMAN heißt: »Ich bin ja weiträumig, ich enthalte Vielheiten.« Wir sind nicht eindimensional, und unsere vielfachen Dimensionen sind nicht statisch. So wie unser Körper aus vielen Teilen besteht, die ein dynamisches, ineinander verwobenes System bilden, das zusammenwirkt, so ist es auch mit unserer Psyche. Wir sind wacher, lebendiger und komplexer, als wir meinen.
Vielleicht findest du es extrem, wie ich in der Highschool behandelt wurde und darauf reagiert habe; vielleicht klingt meine Geschichte im Vergleich zu deinen Teenagerjahren aber auch wie ein Zuckerschlecken. Worauf es ankommt, ist: Wir alle sind mehr oder weniger stark verletzt worden und haben dadurch bestimmte Muster zur Verteidigung entwickelt. Ich zum Beispiel war früher so von meiner defensiven Wut eingenommen, dass ich gewissermaßen in Hass auf die ganze Welt verfiel, in eine existenzielle Verbitterung über die Menschheit und das Leben an sich. Obwohl meine Wut mich in Sicherheit halten wollte und deswegen darauf drängte, dass ich mich von der Welt zurückzog – und zwar deswegen, weil ich keine bewusste Beziehung zu ihr hatte, kein Verfahren, um mit ihr zu sprechen und etwas zu klären –, verschlimmerte der Zorn letztendlich mein Trauma und meine Depressionen und richtete Schaden an. Während der wiederkehrenden Episoden tiefer Depression hielt ich die Menschen für nicht gut und auch mich selbst nicht. Dadurch wurde ich sehr anfällig dafür, auf andere loszugehen. Da das die anderen natürlich von mir wegtrieb, wurde mein Glaube, dass die Menschen und ich nicht gut seien, immer wieder aufs Neue bestätigt, und das zog mich weiter herunter, was mich wiederum noch anfälliger für Angriffe auf andere machte … und so ging es die Abwärtsspirale immer weiter hinunter.
Das ist die emotionale Verwirrung, von der ich im ersten Kapitel gesprochen habe. Die Beziehung zu meinem Kummer und Zorn war so, dass sie mich entweder ganz in der Hand hatten oder ich ungeheuer viel Energie dafür aufbrachte, um sie in eine dunkle Ecke zu drängen, für niemanden sichtbar. Entweder war ich von meiner Wut berauscht – was bedeutete, dass sie meine Gedanken, Worte und Taten diktierte – oder ich »kurierte« mich selbst mit Zerstreuung oder Drogen. Das wiederum wirkte sich sowohl auf meine äußere Welt aus, in der ich zunehmend isoliert war und missverstanden wurde, als auch auf meine innere Welt, in der ich meinem Gefühl nach zunehmend hoffnungslos und festgefahren war.
Dennoch entdeckte ich schließlich die emotionale Intelligenz, die ich im ersten Kapitel erwähnt habe: Methoden, die mir halfen, meine Beziehung zur Wut weiterzuentwickeln, sodass sie mich immer weniger im Griff hatte. Wie kam es, dass sich die Spirale am Ende umkehrte? Hier liegt die Antwort teilweise in unseren sogenannten negativen Emotionen: Sie sind Experten darin, unsere Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Wut hat mein Leben so durcheinandergebracht, dass ich letztendlich keine andere Wahl hatte, als eine Kehrtwende zu machen und an meiner Heilung zu arbeiten. Auf diese Weise führen uns schwierige Gefühle dahin, dass wir uns wandeln.
Die erwähnte dysfunktionale Auseinandersetzung mit meiner Partnerin enthält einen großen Hinweis darauf, wie diese Verwandlung vonstattengehen kann. Mitten im Konflikt hörte ich, wie sie eine einfache, aber wirkungsvolle Frage stellte: »Was haben sie mit dir gemacht?«* Sie ließ mich auf meinen Irrwegen eine Vollbremsung hinlegen, kappte meinen Zorn und öffnete die Tür zu einer Heilung, die mein Nervensystem dringend benötigte. Ihre Frage enthielt nach meinem Empfinden Neugierde und Einfühlungsvermögen, die wie essenzielle Nährstoffe waren, nach denen ich zu jener Zeit lechzte. Der wütende Teil von mir, der ganz im Vordergrund stand, wurde plötzlich weicher und machte Platz, damit etwas viel Zarteres in mir zutage treten konnte. In der Frage schwang mit: »Was ist aus dir geworden, dass du zu diesem Menschen geworden bist, der dauernd so wütend ist? Es kann nicht immer so gewesen sein.« Neugierde und Mitgefühl sind wirkungsvolle Energien.
Stell dir vor, du führst gerade in angespannter Stimmung ein Gespräch mit jemandem – einer Partnerin, einem Freund, einer Kollegin, einem Familienmitglied oder sogar einem Fremden – (zur Klarstellung: ein Gespräch, in dem echter Missbrauch und Gewalt weder vorhanden sind noch unmittelbar bevorstehen) und findest irgendwie den geistigen Raum, um eine neugierige, einfühlsame Frage zu stellen. Mindestens zwei weitere Dinge müssten geschehen, um das zu ermöglichen. Erstens müsstest du innehalten – einen Moment aus dem Gespräch aussteigen, und sei es nur mental. Zweitens müsstest du einen Schritt von deinem Ärger und Verletztsein zurücktreten, um das emotionale Drehbuch in Richtung Großzügigkeit zu wenden. Und obwohl du dich vielleicht fragst: »Warum sollte ich das überhaupt tun, wenn jemand auf mich losgeht?«, weise ich darauf hin, dass es mich in dem Fall mit meiner Partnerin davon abgehalten hat, weiterhin auf sie loszugehen.
Ganz genau so können wir in unserem eigenen Inneren vorgehen. Wir können von einem Monolog, der dem Glauben entspringt, unser Gefühl sei endgültig, zu einem Dialog empathischer innerer Kommunikation übergehen. Das ändert alles. In der Regel erfordert es jedoch ein paar einfache Fähigkeiten. Diese Fähigkeiten sind kurz und knapp die folgenden:
1.Innehalten
2.Entschmelzung/Auflösen der Verschmelzung
3.Neugierig werden
4.Das innere Gespräch umstellen
Betrachten wir sie der Reihe nach.
INNEHALTEN BEDEUTET, DASS WIR unsere Aufmerksamkeit zurückgewinnen. Es heißt, dass wir uns selbst wieder »einholen«, vergleichbar mit einer Angel. Es bedeutet, zur Besinnung zu kommen – buchstäblich zurück zu unseren Sinnen. Es bedeutet, wieder in unseren Körper zurückzukehren.
Diese vermeintlich einfache Fähigkeit ist ziemlich revolutionär. Deine Aufmerksamkeit ist eines der begehrtesten Güter auf diesem Planeten. Etwa 200 Milliarden Dollar gibt die Data-Mining-Industrie jährlich aus, um herauszufinden, wie sie deine Aufmerksamkeit fesseln, dich ablenken und die Gefühle bei dir hervorrufen kann, die Werbeleute oder politische Organisationen bei dir hervorrufen wollen.3 Unsere Welt schreit: »Sieh dir das an! Kauf das! Tu noch mehr! Es schert uns nicht, ob es dich umbringt! Es kümmert uns nicht, ob es den gesamten Planeten und alles darauf vernichtet!« Und in einer solchen Welt zu lernen, wie wir unsere Aufmerksamkeit zurückgewinnen, ist notwendig, um dem psychischen Tod zu widerstehen. Wenn wir psychisch frei, einfühlsam und unabhängig bleiben und weiterhin Dinge hinterfragen wollen, dann müssen wir unseren Geist ständig neu einstellen und auf unsere tieferen Absichten ausrichten.
Der Schlüssel dazu, wie wir lernen können, inmitten schwieriger, intensiver Gefühle innezuhalten, liegt darin, dies im Lauf des Tages immer mal wieder zu tun, und zwar zu Zeiten, in denen wir nicht getriggert werden. Check dich selbst mindestens so oft wie Instagram. Bleib mit deiner inneren Welt mindestens so viel in Kontakt, wie du dich in Bezug auf die äußere Welt auf dem Laufenden hältst. Achte bis zum Gehtnichtmehr auf dein Wohlbefinden. Entscheide dich, dass du bei allem, was du tust, vollständig ein im Körper verankerter, befreiter, emotional heiterer, spiritueller Mensch sein willst. Du bist ein faszinierendes Wesen mit enormer Kapazität. »Alle Gefühle haben« beschreibt es nicht einmal ansatzweise. Ein Kosmos voller Big Bangs und schwarzer Löcher, Supernovas und planetarischer Nebel wirbelt in deinem Inneren. Viele Menschen verbringen ihr Leben, ohne das überhaupt zu merken, geschweige denn, dass sie darin schwelgen. Neben vielen anderen guten Dingen geht es beim Innehalten darum, dafür zu sorgen, dass uns das »Nichtbemerken« nicht passiert – um zu gewährleisten, dass wir das, was die Dichterin MARY OLIVER »unser eines wildes, wertvolles Leben« nannte, nicht verschwenden.
Entschmelzung
STELL DIR VOR, DU STEHST VOR EINEM GEMÄLDE, das du wirklich sehen willst – aber im Abstand von nur drei Zentimetern. Du kannst es nicht sehen. Du bist zu nah dran. Du hast nicht genug Raum, um erfassen zu können, was direkt vor dir ist. Du willst natürlich einige Schritte zurücktreten. Nicht, weil du dem Gemälde entkommen willst – ganz im Gegenteil. Du trittst zurück, weil du es klarer sehen willst. Du willst es ganz sehen.
Wenn wir zu nah bei unseren starken Gefühlen stehen, werden wir zu diesen Gefühlen. Wir werden überrollt, mitgerissen. Wir verschmelzen mit ihnen. In diesem Zustand haben wir nur wenige Optionen. Wir entwickeln einen Tunnelblick, können die Dinge nicht mehr in einen Zusammenhang bringen. Wir sagen Dinge, die wir nicht meinen. Wir tun Dinge, die wir – gemäß der Einschätzung eines unserer Anteile – zu unserem Schutz tun müssen, nur damit ein anderer Teil von uns es später bereut. Wir sind in unseren Emotionen, aber dennoch nicht mit ihnen verbunden. Paradoxerweise können wir sie am besten verstehen und die Botschaften, die sie uns vermitteln, annehmen, wenn wir uns loslösen bzw. entschmelzen, also zwei Schritte von unseren Emotionen zurücktreten. Entschmelzen bedeutet einfach, ein bisschen Raum, ein bisschen Tageslicht zwischen uns und unsere emotionalen Teile, die aktiviert werden, zu bringen.
Vielleicht denkst du, deine Gefühle wären manchmal zu intensiv, als dass du das schaffen könntest. In Wirklichkeit ist es jedoch so: Je intensiver die Gefühle sind, desto mehr müssen wir diesen Raum finden, wenn wir vermeiden wollen, uns selbst oder andere zu verletzen. Je mitreißender der Gefühlszustand ist, umso mehr Bewusstheit müssen wir in die Situation einbringen und umso dringender ist es, dass wir innehalten, atmen und unsere Mitte wiederfinden, bevor wir auch nur einen weiteren Schritt tun.
Entschmelzung, Loslösung, ist eine Möglichkeit, die eigene bewusste Handlungsfähigkeit in Momenten zurückzugewinnen, in denen man getriggert wird. Sobald du die Verschmelzung gelöst hast, kannst du dich allmählich mit Aspekten deiner tieferen Weisheit verbinden, ohne deine getriggerten Anteile verurteilen oder verleugnen zu müssen.
Neugierig werden
WENN DU HALTMACHST UND DEINEN GEFÜHLSZUSTAND mit Neugier betrachtest, kannst du das Gefühl klarer wahrnehmen, darauf reagieren, kannst auf das Gefühl eingehen, ihm Mitgefühl entgegenbringen. Du kannst entscheiden, ob du wirklich möchtest, dass dieses Gefühl so, wie es ist, deine Handlungen beeinflusst (oder auch nicht). Du kannst auch das Gespräch, das du in deinem Inneren führst, umstellen und verändern. Was darauf hinausläuft, dass du das Gespräch, das du mit anderen führst, verändern kannst – schließlich ist es viel einfacher, jemandem zu sagen, wie du dich fühlst, wenn du genügend Abstand hast, um deine Erfahrung richtig kommunizieren zu können.
Wenn wir uns für Neugierde öffnen, sind wir unserem natürlichen Zustand des kindlichen Staunens sehr viel näher. Wenn wir mit Neugier in Kontakt kommen, übertreten wir die Schwelle hin zu unendlichen Möglichkeiten. Neugierig, wirklich neugierig auf unsere Situation zu sein, bedeutet, Bewegung in das zu bringen, was früher festgefahren und angespannt war. Es bedeutet, Wärme in eine Erfahrung zu bringen, ohne von dieser Erfahrung verlangen zu müssen, sich zu verändern. Der Moment, in dem allmählich Neugierde in unseren Kampf mit uns selbst einsickert, hat etwas Geheimnisvolles an sich. Unsere Anteile können natürlich dagegen ankämpfen und es eine Weile abblocken. Doch sobald die Teile selbst neugierig werden und nachgeben, ist der Paradigmenwechsel unbestreitbar.
Neugierde ist Mitgefühl auf der Anfangsstufe, ist Fürsorge auf der Anfangsstufe. In Momenten, in denen Mitgefühl (für uns selbst oder für andere) nach unserem Empfinden entweder unerreichbar oder völlig unvernünftig erscheint, ist Neugierde viel leichter zugänglich. Da ist sie Mitgefühl auf der Anfangsstufe. Denn sobald wir neugierig und wissbegierig werden, sind wir auf dem besten Wege, die Dinge ganz neu zu sehen und zu verstehen. Je mehr wir verstehen, woher ein Teil von uns (oder der eines anderen Menschen) kommt, desto wahrscheinlicher ist es, dass Mitgefühl und Fürsorge sich spontan einstellen.
Wenn die Neugierde blockiert ist
WENN STÖRENDE ODER SCHMERZERFÜLLTE TEILE von uns präsent sind, geschieht es gewöhnlich, dass andere Teile sich einschalten und die Situation beurteilen, sich dagegen sträuben, sie abstellen oder analysieren wollen. So könnte zum Beispiel ein Klient zu mir sagen: »Ich kann jetzt nicht neugierig auf meine Wut sein, weil ich diese Wut so sehr hasse.« Darauf würde ich ehrlich antworten: »Natürlich hassen Sie sie. Wut ist unangenehm und bringt alles durcheinander. Ich verstehe, warum ein anderer Teil von Ihnen sie nicht ausstehen kann.« Den nächsten Schritt finden viele ganz und gar erstaunlich: Wir können den Teil von uns, der über den wütenden Teil urteilt, bitten, sich zu entspannen und beiseitezutreten. Wir nehmen den bewertenden Teil einfach freundlich zur Kenntnis und fragen ihn, ob er bereit wäre, ein bisschen lockerer zu werden. Erstaunlicherweise funktioniert das. Und wenn es nicht klappt – wenn zum Beispiel der bewertende Teil nicht beiseitetreten will –, arbeiten wir stattdessen einfach mit diesem bewertenden Teil, entwickeln Neugierde auf ihn und machen von da aus weiter.
Das funktioniert ebenso mit Dumpfheit, mit Zerstreutheit, mit allen nur erdenklichen Teilen von uns. Manchmal sagt mir jemand: »Ich kann nicht mit meinen Teilen arbeiten, weil ich das Gefühl habe, innerlich lahmgelegt zu sein.« Doch dieses Gefühl ist ein Teil dieser Person. Wir machen also eine Pause, werden neugierig auf die Erfahrung des »inneren Lahmgelegtseins« und gehen dann zum nächsten Schritt über.
Wenn dir das verwirrend erscheint, sei unbesorgt. Mach einfach weiter. Mit genügend freundlicher Beobachtung wird sich die Struktur des Geistes auf jeden Fall ganz natürlich offenbaren.
Das innere Gespräch umstellen
NACHDEM WIR INNEGEHALTEN HABEN, die Verschmelzung aufgelöst haben und neugierig geworden sind (was alles in einem Augenblick geschehen kann, sobald wir die Gewohnheit erst einmal aufgebaut haben), sind wir nun in der Lage, Fragen zu stellen, die aus der Energie dieser Neugierde erwachsen. Ist es ein Teil von dir, der wegen irgendeiner Verletzung oder eines Verrats bedrückt ist? Oder ist es ein Teil, der gekommen ist, um dich auf irgendeine Weise zu beschützen? Welche Gefühle sind da? Spürst du sie im Körper? Wenn ja, wo? Und wie sind die damit einhergehenden Empfindungen? Schwer oder leicht? Schneidend oder dumpf? Auf und ab pulsierend oder konstant? Eher warm oder eher kühl? Hat dieser Teil von dir eine »Stimme«? Wenn ja, was sagt er? Oder vielleicht steigen Bilder in dir auf, wenn du neugierig wirst. Falls es so ist, was sind das für Bilder? Haben sie einen Bezug zu einschneidenden Momenten in deinem Lebens?
Ich werde noch viele weitere Fragen vorschlagen, die wir stellen können, um unsere inneren Teile in die folgenden Übungen einzubeziehen, aber ich hoffe, es hat sich jetzt schon gezeigt, dass es mit unseren Gefühlen viel mehr auf sich hat, als uns je gelehrt wurde. Das, was man einfach als »Traurigkeit« bezeichnen und abtun könnte, ist in Wirklichkeit viel facettenreicher und vielschichtiger. Wenn wir auf unser Gefühl der Traurigkeit neugierig sind, können wir uns, um bei dem Beispiel zu bleiben, nach innen wenden, um einen Anteil von uns zu finden – eine Subpersönlichkeit, wenn man so will –, der eine Funktion, eine Stimme, Sinnesempfindungen, eine Geschichte und sogar Schichten weiterer Gefühle hat – all das geht schon aus der bisher nur oberflächlichen Untersuchung hervor. Im weiteren Verlauf werden wir feststellen, dass hinter dem Ganzen noch mehr steckt.
Inside Out – Alles steht Kopf
DIESE SCHRITTE, DIE UNS IN DIE LAGE VERSETZEN, einen inneren Dialog empathischer Kommunikation mit uns selbst zu organisieren – innehalten, entschmelzen, neugierig werden und Fragen zur Selbsterkundung verwenden – finden sich, mit Variationen und unterschiedlichen Benennungen, in etlichen spirituellen Praktiken und Übungen zum Wohlbefinden. Die Sprache, die ich hier verwende, ist aus dem Verfahren der Teile-Arbeit übernommen, das für das IFS von zentraler Bedeutung ist. Das vielleicht Coolste an der Teile-Arbeit ist, dass sie auch ohne Therapeut*in praktiziert werden kann. Sie kann in Meditation und kontemplative Praktiken eingebracht und den ganzen Tag über zwischendurch kurz eingeschoben und sinnvoll praktiziert werden.
Vielleicht hast du den Pixar-Film Inside Out (»Alles steht Kopf«) gesehen oder davon gehört. In diesem Film laufen alle emotionalen Teile eines kleinen Mädchens namens RILEY umher und versuchen, ihr zu helfen, sich inmitten der Konflikte zwischen ihren Eltern im täglichen Leben zurechtzufinden. Jeder dieser Teile hat seine eigene Aufgabe und seine eigene Agenda. Häufig stimmt diese Agenda nicht mit der der anderen überein und die Teile kollidieren miteinander. Ergeht es uns nicht manchmal genauso? Tatsächlich wurden die Schöpfer des Systems der inneren Familie (IFS) von Pixar als Berater für die Fortsetzung von »Alles steht Kopf« hinzugezogen.
ÜBUNG 1 | Wenn dir schreckliche Schlagzeilen ins Auge springen
DENK AN DIE LETZTE SCHLIMME SCHLAGZEILE, die du gelesen hast. Es sollte am besten etwas sein, was dir nicht so nahe geht, dass dir gleich die Galle hochkommt und du total wütend wirst. Such dir etwas aus, das gut zu bewältigen ist. Wenn dir keine Schlagzeile einfällt, erinnere dich an eine Situation, in der du verzweifelt oder wütend warst. Lass zu, dass die emotionalen Anteile, die an der Erfahrung beteiligt waren, aktiviert werden.
Sobald ein emotionaler Anteil (oder mehrere) vorhanden ist, halte inne. Atme einmal tief durch, spüre, welche emotionalen und kognitiven Charakteristika vorhanden sind und ob du schon das Gefühl hast, darin gefangen zu sein. Kannst du ein Grundgefühl – oder mehrere – wie »Traurigkeit«, »Sorge« oder »Wut« benennen? Gibt es Empfindungen im Körper, wie zum Beispiel angespannte Schultern, Knoten im Bauch, Schmerzen im unteren Rücken oder etwas anderes? Versuch nicht, die Empfindungen in Ordnung oder zum Verschwinden zu bringen; spüre einfach in sie hinein. Achte auf die »Stimme« dieses Teils oder dieser Teile und auf alle damit verbundenen Gedanken. Versuch nicht, sie auszuschließen oder ihnen zu widersprechen; hör einfach hin und nimm sie wahr.
Beachte, dass dieser Teil deswegen so auf die Schlagzeile reagiert, weil es Sinn ergibt. Er folgt hier tatsächlich einer Logik. Dieser Teil von dir will entweder einen Weg finden, die Situation anzugehen und die Dinge wieder in Ordnung zu bringen, oder er ist in irgendeiner Weise verletzt und niedergedrückt als Reaktion auf etwas, das für ihn eine Rolle spielt. Auch wenn die Art, wie er sich ausdrückt, sich unangenehm anfühlt, so kommt diesem inneren Teil von dir doch eine gewisse Intelligenz zu.
Kannst du nun ein paarmal tief durchatmen und spüren, dass zwischen dir und dem Gefühl ein räumlicher Abstand liegt? Es muss nicht unbedingt eine drastische Veränderung sein. Noch einmal – das ist wichtig: Wir versuchen nicht, diesen Teil von dir beiseitezuschieben. Wir wollen ihn nur ein bisschen näher kennenlernen, um zu verstehen, woher er kommt. Dazu brauchen wir nur ein bisschen Raum. Lass dir Zeit.
Versuch als Nächstes, in dir etwas Neugierde auf den aktivierten Teil deiner selbst zu finden – nicht so sehr auf die Geschichte, warum du dies fühlst oder ob dieser Teil von dir recht hat oder nicht, sondern auf die unmittelbare Erfahrung, die du machst –, also auch hier wieder Neugierde auf die Empfindungen im Körper, auf das, was dieser Teil von dir offenbar sagt: »Ich hasse das«, »Das ist nicht fair«, »Das kann nicht sein« oder was auch immer die Botschaft ist. Versuch in dir einen Raum zu entdecken, in dem es möglich ist, eine gewisse Neugierde oder ein Interesse an diesem emotionalen Teil von dir zu finden. Verweile dort einen Moment.
Wenn du keine Neugierde auf diesen Teil deiner selbst aufbringen kannst, frag einfach all deine anderen inneren Teile, ob sie so nett sein wollen, sich zu entspannen und beiseitezutreten. Möglicherweise musst du das zwei- oder dreimal tun, bevor die Neugierde aufkommt. Aber alles, was du brauchst, ist ein Quäntchen Neugier, eine winziges bisschen Raum.
Spüre, wie du dich fühlst, jetzt, da du neugierig darauf bist, was in dir vorgeht, statt dich davon verschlingen zu lassen, es loswerden zu wollen oder dich so sehr auf Äußeres (Schlagzeile oder Interaktion) zu konzentrieren, dass dir gar nicht bewusst ist, was du innerlich empfindest. Es ist, als würdest du beides miteinander vermischen: Neugierde und Traurigkeit; Neugierde und Sorge; Neugierde und was auch immer du fühlst. Wenn du wirklich neugierig auf dieses Gefühl bist, ist es vielleicht noch da, aber achte einmal darauf, ob du jetzt in einem – und sei es nur geringfügig – besseren Zustand bist.
Wenn du tiefergehen möchtest und wenn (das ist wichtig) Neugierde, Weite oder Mitgefühl für diesen Teil deiner selbst vorhanden ist, findest du weiter unten einige einfühlsame Fragen, die du stellen kannst. Versuch nicht, die Antworten herauszufinden. Frag einfach und lass dich von der Antwort vielleicht sogar ein bisschen überraschen:
Ist da etwas, das du mir sagen möchtest?
Hängen diese Gefühle mit etwas sehr Persönlichem zusammen?
Welche Rolle spielst du in meinem Leben? Welche Aufgabe versuchst du zu erfüllen?
Wie lange hast du diesen Job schon?
Machst du diesen Job gern, oder erschöpft er dich?
Wenn du mich nicht auf diese Weise beschützen müsstest und jeden anderen Job auf der Welt haben könntest, was würdest du lieber tun?
Dies ist eine von vielen Möglichkeiten, wie wir offen mit unseren Gefühlen umgehen können, ohne in ihnen unterzugehen oder ihnen auszuweichen.
WENN DU NOCH EINEN SCHRITT WEITER GEHEN und mehr über die Verletzlichkeit in deinem Inneren erfahren willst, die dieser reaktive Teil schützt, könntest du fragen:
Wenn du mich nicht mehr auf diese Weise schützen würdest, was geschähe deiner Meinung nach?
Die Antwort, die wir auf diese Frage spüren, weist uns die Richtung, hin zu dem, was sich in unserem Leben nach Heilung sehnt. Halte diesen Teil von dir in einem Zustand des Mitgefühls. Du kannst sogar die folgende Übung dazu nutzen, ihm etwas heilende Energie anzubieten.
Selbstliebe für den Teil von dir, der es am meisten braucht | ÜBUNG 2
ATME EIN PAARMAL TIEF EIN UND AUS und spüre, wie es ist, in deinem Körper zu sein. Denk an deine Kindheit, an eine Zeit oder Situation, die relativ leicht war (auch wenn sie vielleicht nur einen flüchtigen Moment andauerte). Werde allmählich neugierig auf diesen Moment. Wie alt warst du damals? In welcher Klasse warst du? Womit hast du gern gespielt? Kannst du sehen, wie dein Gesicht damals aussah? Vielleicht kannst du dir dein Aussehen mithilfe eines Familien- oder Klassenfotos vorstellen. Kannst du deine Kinderstimme, dein Kinderlachen hören? Vielleicht hilft es dir, die Augen für einen Moment zu schließen, um das Bild deines kindlichen Ichs realer zu machen. Bring das Kind direkt in den Raum, genau hierhin, zu dir.
Stell dir dann vor, wie du dein jüngeres Ich mit der Energie deiner Neugierde umgibst. Finde heraus, ob du diese Neugierde vertiefen und zu Empathie oder sogar Fürsorge werden lassen kannst. Schenk deinem Kinder-Ich die positive Zuwendung, die du jedem kleinen Kind in deiner Obhut schenken würdest. (Selbst wenn du Kinder nicht magst – wir wissen beide: Hätte dir jemand ein kleines Kind anvertraut, würdest du ihm gegenüber zumindest eine grundlegende Freundlichkeit an den Tag legen.) Erweitere diese Energie auf das Kind.
Schicke dem Kind aufrichtig einige gute Wünsche. Sende ihm die Gedanken: »Mögest du glücklich sein. Mögest du dich sicher fühlen. Mögest du dich frei fühlen.« Wiederhole das ein paarmal langsam, und stell dir vor, wie die Energie dieser Worte das Kind erreicht und sein kleines Gesicht aufleuchten lässt. Du kannst die Worte mit dem Atem senden, sie dir als einen Lichtstrahl vorstellen oder auch jede andere Technik anwenden, die dir dabei hilft.
Es kann sein, dass du erst einmal gar nichts merkst, es kann aber auch sein, dass du eine drastische Veränderung spürst. So oder so, mach einfach weiter.
DENK ALS NÄCHSTES AN EINE SCHWIERIGE ZEIT in deiner Kindheit. (Hinweis: Bitte wähle keine zutiefst traumatische Erinnerung aus, es sei denn, du hast viel Erfahrung mit einer solchen Arbeit an dir selbst.) Vielleicht hat sich beim Lesen ja schon eine Erinnerung in dir geregt. Wenn in dir sofort schwierige Gefühle aufkommen, übe dich darin innezuhalten, die Verschmelzung aufzulösen und Neugierde zu entwickeln. Wie alt warst du damals? In welcher Klasse warst du in der Schule? Kannst du das Bild deines Kinder-Ichs sehen? Erinnerst du dich an dein Lachen, dein Lächeln? Wie hat es sich angefühlt, in dieser Zeit deines Lebens du zu sein? Vielleicht hast du eine ganz bestimmte Erinnerung und kannst eine ganze Szene sehen oder fühlen, die sich vor dir entfaltet. Ruf dir so viel wie möglich über diesen besonderen Moment in Erinnerung oder stell ihn dir vor. Vielleicht musst du auch hier wieder innehalten, entschmelzen und neugierig werden.
Erweitere die Energie der Neugierde, der Freundlichkeit, des Wohlwollens oder des Mitgefühls auf dieses Kind. Umgib es damit. Vielleicht möchtest du eine Hand auf dein Herz legen, damit das Kind weiß, dass du hier bei ihm bist. Wenn du körperliche Empfindungen wie Schwere auf der Brust oder Engegefühl im Hals spürst, könnte es auch hier hilfreich sein, eine mitfühlende Hand an den betreffenden Stellen aufzulegen, um eine positive Botschaft zu vermitteln.
Schick dem Kind, wie du es schon vorher getan hast, einige aufrichtige Wünsche für sein Wohlergehen. Sende die Gedanken: »Mögest du glücklich sein. Mögest du dich sicher fühlen. Mögest du dich frei fühlen.« Wiederhole diese Gedanken aufs Neue ein paarmal langsam. Sieh, wie die Energie dieser Worte das Kind erreicht und sein kleines Gesicht erhellt. Wie zuvor, kannst du auch hier alle Bilder verwenden, die sich für dich richtig anfühlen.
Manchmal wirkt es vielleicht so, als sei dein Inneres-Kind-Anteil unempfänglich für deine Fürsorge. Es ist, als sei dieser Teil von dir nicht daran gewöhnt, solche Güte von anderen oder sogar von dir zu empfangen, und er traut dem Ganzen vielleicht nicht. Wenn das passiert, mach dir klar, dass das häufig vorkommt und sich mit der Zeit ändern wird. Manchmal müssen wir bei unseren inneren Teilen Wiedergutmachung leisten für das, wie es bisher war. Manchmal müssen wir ihnen einfach weiterhin sanft Gutes wünschen, unabhängig von ihrer Reaktion. Wie eine misstrauische Katze, die allmählich merkt, dass es Leckerlis für sie gibt, werden sie irgendwann herauskommen.
Bleib eine Weile hier und halte alle Gefühle, die vorhanden sind, im Raum des Mitgefühls. Nimm zum Abschluss fünf tiefe, reinigende Atemzüge. Achte darauf, »größer« zu atmen als jedes Gefühl, das in dieser Übung da war. Komm sanft aus dieser Übung heraus und kümmere dich dann heute unglaublich gut um dich selbst.
Wenn Gedanken schreien: Der Selbstliebe-Ansatz, um innere Kritik und Überforderung zu verringern | ÜBUNG 3
WENN UNSERE GEDANKEN GERADEZU SCHREIEN, ist das eine Reaktion darauf, dass wir uns verwundbar fühlen. Ob diese Verwundbarkeit real oder eingebildet, bewusst oder unbewusst ist, spielt keine Rolle. Unser Nervensystem geht kein Risiko ein, wenn es ums Überleben geht; es reagiert auf jedes Gefühl der Verwundbarkeit, als ginge es ums Überleben. Vielleicht möchtest du diese inneren Stimmen und Gefühle dazu bringen, verdammt noch mal die Klappe zu halten, aber es gibt einen besseren Weg – einen, der in der Selbstliebe wurzelt. Und er ist einfach. Dafür brauchst du nichts weiter zu tun, als deine Skepsis aufzugeben, während du etwas Neues ausprobierst. Probiere es mindestens zwei Mal und prüfe nach diesen ernsthaften Versuchen, ob es funktioniert hat.
1.Betrachte den Ursprung dieser Überforderung als einen anderen Menschen – oder als mehrere Menschen, je nachdem.
2.Hör zu, was gesagt wird. Versuch nicht mehr, diese Anteile von dir wegzuschieben oder sie zu verändern. Halt inne und hör zu. Worüber klagen die Teile? Fürchten sie, das etwas Bestimmtes passiert? Was hast du ihrer Meinung nach falsch gemacht? Hör einfach passiv jede einzelne Beschwerde, jede einzelne Beleidigung an.
3.Denk über das, was du gehört hast, nach. Wiederhole innerlich (nicht laut) noch einmal alle Beschwerden, die du gehört hast. Jede einzelne. Zum Beispiel: »Okay, ich höre, dass du mich für das Allerletzte hältst, dass wir bestimmt scheitern, dass alles schrecklich ist …« Die Stimmen mancher Menschen sagen sehr problematische Dinge über Aspekte ihrer sozialen Identität, wie Hautfarbe oder Geschlechtsausdruck. Wenn dir das passiert, dann spiegele diese Gefühle einfach zurück. Füg nichts hinzu. Lass diesen Teil von dir einfach wissen, dass du ihn hörst.
4.Nachdem du jede Beschwerde noch einmal wiederholt hast, frag in deinem Inneren nach, ob noch mehr da sind. Wir wollen alle Beschwerden hören. Eine weitere gute Frage, die du diesen Teilen deiner selbst stellen kannst, ist: »Verstehe ich das richtig?«
5.Wenn weitere Beschwerden kommen, spiegele auch sie zurück, so wie in Schritt drei.
6.Sag in deinen eigenen Worten und in einem freundlichen Tonfall zu diesen Teilen von dir: »Jetzt habe ich alle Beschwerden gehört und verstehe sie. Ich verstehe, warum ihr verärgert seid. Aber da ich euch jetzt höre und verstehe – meint ihr, ihr könntet die Lautstärke hier etwas leiser stellen? Könntet ihr die Intensität etwas dämpfen, damit ich den Raum habe, mich damit zu befassen und etwas zu tun?
7.Wenn die Beschwerden weitergehen, liegt es entweder daran, dass noch mehr ansteht, oder daran, dass diese Teile von dir das Gefühl haben, du hättest sie nicht ausreichend gehört oder verstanden. Niemand schreit weiter, wenn er oder sie sich wirklich gehört und verstanden fühlt. Wiederhole dann Schritt eins bis sechs.
8.Wenn die Beschwerden immer noch anhalten, frag nach innen, was die betreffenden Anteile von dir brauchen, um sich zu beruhigen. Wollen sie, dass du eine Grenze setzt? Dass du etwas änderst oder dich zu irgendetwas verpflichtest?
IN NEUN VON ZEHN FÄLLEN sind solche wütenden Gedanken und Gefühle defensive Teile von uns. Wenn ich diesen Prozess durchlaufe, merke ich manchmal (aber nicht immer), dass bei den Betreffenden das Gefühl aufkommt, verwundbar, sehr emotional zu sein, oder als hätten sie eine innere Wunde. Wenn das auf dich zutrifft, lass dich davon nicht aus der Bahn werfen. Du fühlst jetzt deinen verletzten Teil – oder deine verletzten Teile –, die vorher verteidigt worden sind; die verborgeneren Schichten von dir, bei denen du es wahrscheinlich als unerträglich empfändest, wenn sie wieder jemand verletzen, verraten, terrorisieren, beleidigen oder beschämen würde. Wenn du jetzt genau an diesem Punkt stehst, hier nun einige zusätzliche Schritte, um mit deinem Inneren auf mitfühlende Weise in Beziehung zu treten.
1.Halte inne. Löse die Verschmelzung auf. Werde neugierig darauf, was oder wer jetzt in dir präsent ist. Bitte dräng nichts und niemanden weg, versuch nicht, etwas oder jemanden dazu zu bringen, sich zu entspannen. Das hatten wir schon zur Genüge. Schau, ob du stattdessen einen inneren Raum findest, in dem du diesem Teil von dir offen begegnen oder sogar Fürsorge für ihn empfinden kannst.
2.Wenn du in deinem Inneren keinen solchen Raum finden kannst, ist das in Ordnung. Nimm die Teile von dir wahr, die diesem verletzten Teil Abneigung entgegenbringen. Bitte einfach diese anderen Teile freundlich beiseitezutreten, damit du diesem belasteten Teil von dir helfen kannst. Möglicherweise musst du das mehrmals tun. Tu das so lange, bis du in deinem Inneren einen Raum findest – und sei er nur winzig –, der offen und klar und dem verletzten Teil von dir vielleicht sogar zugetan ist.
3.Erkunde diesen Teil von dir ein wenig, indem du in dich hineinspürst. Ist er irgendwo im Körper? Welche Empfindungen sind da? Kannst du das Hauptgefühl, das hier vorhanden ist, benennen? Hat es eine Stimme?
4.Sobald du in der Lage bist, neugierig und vielleicht sogar fürsorglich zu sein, erweitere diese Neugierde und Fürsorge durch die folgenden Schritte:
Verharre einfach so, als würdest du diesen Teil von dir halten oder mit ihm einfach ein bisschen beisammen sein. Atme einfach und sei präsent, ohne etwas zu wollen.
Frag diesen Teil, ob er möchte, dass du etwas Bestimmtes wissen sollst.
Leg eine mitfühlende Hand dorthin, wo du ihn im Körper spürst (oder auf das Herzzentrum), und sag ihm: »Ich bin da. Wir sind jetzt in Sicherheit. Wir haben überlebt.«
Wenn du eine visuelle Vorstellung von diesem Teil deiner selbst hast, könntest du ihm zum Beispiel eine Decke anbieten oder einen kleinen Welpen, damit er sich leichter beruhigen kann und sich sicher fühlt.
Du kannst jederzeit zum obigen ersten Schritt – einfach verharren und atmen – zurückkehren.
Anleitung: Hinterher für dich sorgen
ES KANN GUT SEIN, DASS DIESE einleitenden Übungen doch tiefgehender waren, als du vorab angenommen hast. Falls du heute bei dir sehr tief vorgedrungen bist, kümmere dich gut um dich und sei bei dem, was du im Weiteren tust, besonders sanft zu dir. Einige Vorschläge:
1.Ruf jemanden an, der oder die dir den Rücken stärkt, zum Beispiel eine Freundin oder ein Familienmitglied.
2.Dusche oder nimm ein heißes Bad (mit Badesalz und -öl, wenn vorhanden), und wasch alles ab.
3.Geh nach draußen und schau in den Himmel. Spüre, wie dadurch dein Schwerpunkt automatisch bis zu deinen Füßen herabsinkt.
4.Atme fünfmal tief ein – so tief wie jedes einzelne Gefühl, das da gewesen ist.
5.Gönn dir ein kleines Vergnügen, zum Beispiel Schokolade oder ein lustiges Tiervideo.
6.Mach die Übung »Sich erden: der Atemkörper« auf S. 109 oder geh auf meine Website www.ralphdelarosa.com/meditations und versuch es mit einer der dortigen Atemübungen (Anleitungen sind auf Englisch; Anm. d. Lekt.).
WAS DU AUCH TUST, SEI GUT ZU DIR. IMMER.
*Es spielt überhaupt keine Rolle, dass ich mir in jenem Moment nur eingebildet habe, ich hätte diese Frage gehört – das Gehirn wird von dem angetrieben, was es wahrnimmt, nicht von der Realität.